DIE GEMEINSCHAFTSSCHULE. Sortieren war gestern.

Im Jahr 2006 haben wir Sozialdemokraten in Sachsen als Regierungspartei die ersten Gemeinschaftsschulen eingeführt. Sie waren ein Erfolg bei Schülern, Eltern und Lehrern gleichermaßen. Die wissenschaftliche Evaluation und der Vergleich mit verschiedenen Oberschulen und Gymnasien bescheinigte ihnen dieselbe Bildungsleistung bei besserem Schulklima. Doch 2016 stoppte die damalige CDU-FDP-Koalition diesen Weg und beendete den Schulversuch.

2019 gelang ein neuer Anlauf. Denn viele Menschen in Sachsen wünschen sich, dass unsere Kinder länger gemeinsam lernen. Ein Volksantrag erhielt die erforderliche Anzahl an Unterschriften und wurde beim Landtag eingereicht. In der neuen Koalition aus CDU, Grünen und SPD machten wir gemeinsam mit dem Bündnis „Gemeinschaftsschule in Sachsen – Länger gemeinsam lernen“ Druck und konnten die Gemeinschaftsschule nun als reguläre Schulart im Gesetz verankern. Seither ist einige Bewegung in die sächsische Schullandschaft gekommen, erste Schulen haben sich auf den Weg gemacht. Informationen rund um die beiden „Länger-gemeinsam-lernen“-Schularten „Gemeinschaftsschule“ und „Oberschule+“ finden sich unter anderem auf den Seiten des Kultusministeriums.

Martin Dulig: Sachsen braucht die Gemeinschaftsschule.

(Dieser Beitrag erschien am 26. Februar 2019 in der Rubrik „Perspektiven“ der Sächsischen Zeitung)

In diesen Tagen stehen 35.000 Eltern in Sachsen wieder einmal vor der Frage: Wie geht es weiter mit meinem Kind? Oberschule oder Gymnasium? Beide Schularten haben in Sachsen viel zu bieten. Die schwarz-rote Landesregierung hat in den letzten Jahren eine Menge getan, um die Oberschulen zu stärken. Zahlreiche neue Lehrkräfte, eine umfassende Berufsorientierung und flächendeckende Schulsozialarbeit sind heute deren Qualitätsmerkmale. Und viele Eltern wissen das zu schätzen: Inzwischen werden auch Kinder mit Gymnasialempfehlung oft an einer Oberschule angemeldet.

Gymnasium oder Oberschule? Darum geht es gar nicht mehr.

Denn Oberschule oder Gymnasium ist für viele Eltern gar nicht mehr die entscheidende Frage. Wenn sich Eltern für eine weiterführende Schule entscheiden, geht es oft um ganz anderes: Können die Lehrerinnen und Lehrer als Personen überzeugen? Sind sie zugewandt, am Kind orientiert und für ihren Stoff begeistert? Ist das Schulgebäude einladend, sind die Wände kahl oder gestaltet, der Schulhof voller Beton oder voller Leben? Kommen genügend Freunde aus der Grundschule mit, so dass die sozialen Beziehungen erhalten bleiben? Und kann mein Kind zur Schule laufen, Rad fahren oder ist die Entfernung wenigstens so erträglich, dass am Nachmittag neben der Busfahrt noch Zeit für Hobbies bleibt?

Die Kurfürst-Moritz-Schule in meinem Heimatort Moritzburg ist so eine Oberschule, an der viele Kinder mit Gymnasialempfehlung lernen. Aus genau diesen Gründen: Die Lehrkräfte hier unterrichten mit Leidenschaft. Das Leitbild der Schule ist an der Begeisterung für das Lernen ausgerichtet. Fehler sind kein Problem, sondern eine Chance für Entwicklung. Kreativität wird gefördert, gemeinsame Projekte bringen die Schüler aller Klassenstufen zusammen. Die Lernleistungen sind im sachsenweiten Vergleich überdurchschnittlich gut und niemand verlässt die Schule ohne Abschluss. Nicht umsonst ist die Kurfürst-Moritz-Schule in diesem Jahr für den Deutschen Schulpreis nominiert, als eine der zwanzig besten Schulen in Deutschland. Im Juni fällt die Entscheidung und meine Daumen sind natürlich gedrückt!

Niemand geht verloren, nur weil er länger braucht.

Dass die Kurfürst-Moritz-Schule so ist, kommt nicht von ungefähr. Sie war eine jener neun Schulen, die in Sachsen von 2006 bis 2016 als Gemeinschaftsschule unterrichten durften. Viele der positiven Entwicklungen von damals wirken heute immer noch. Ein wesentlicher Punkt ist die individuelle Förderung der Schülerinnen und Schüler. Weil an der Gemeinschaftsschule sowohl Kinder mit Oberschulempfehlung als auch solche mit Gymnasialempfehlung gemeinsam lernen, ist es wichtig, binnendifferenziert zu unterrichten. Das heißt: Alle Lernziele und Aufgaben werden auf das persönliche Lernniveau jedes einzelnen Schülers abgestimmt. Der Unterricht wird innerhalb ein und derselben Klasse differenziert. So geht niemand verloren, nur weil er etwas länger braucht. Und kein Überflieger langweilt sich, sondern bekommt zusätzliche Herausforderungen.

Dieser binnendifferenzierte Unterricht ist der Schlüssel zum Erfolg. Das zeigen inzwischen tausende bildungswissenschaftliche Studien, übrigens auch PISA. Und deshalb sollte er eigentlich an jeder Schule durchgeführt werden – unabhängig von der Schulform. Doch die frühe Trennung der Kinder in Oberschule und Gymnasium erzeugt bei vielen die Vorstellung, dass Binnendifferenzierung nicht notwendig sei. Die Kinder kommen ja „vorsortiert“ in der weiterführenden Schulart an. Dort wird von ihnen erwartet, dass sie alle den gleichen Stoff im gleichen Tempo auf dem gleichen Niveau lernen können.

Sortieren war gestern.

Was für eine Illusion! Auch an unseren Oberschulen und Gymnasien gibt es langsame und schnellere Lerner. Ein und dieselbe Schülerin kann in dem einen Fach ganz vorn dabei sein und kommt in dem anderen kaum hinterher. Das ist völlig normal, denn Menschen sind unterschiedlich, die Welt voller Vielfalt. Das gegliederte Schulsystem verdrängt diese Unterschiede. Es tut so, als ob es sie nicht gäbe. Aber das funktioniert nicht. Und so geben Eltern dann enorme Summen für Nachhilfe aus. Schüler sind frustriert, weil sie nicht in ihrem Tempo lernen können und Lehrkräfte klagen über zuviel Heterogenität. Das Kinder-Sortieren funktioniert nicht. Es ist für die Bildung der Schüler langfristig von Nachteil. Denn sie werden in eine Welt entlassen, die immer vielfältiger, immer heterogener, immer komplexer wird. Da ist es vernünftiger, Vielfalt gleich von vornherein zum Prinzip zu machen. Dass das funktioniert, zeigen viele Schulen in freier Trägerschaft. Und eben auch so manche staatliche Schule.

Ein zweiter Punkt macht die Gemeinschaftsschule wertvoll: An ihr werden alle Kinder aufgenommen, unabhängig von der Bildungsempfehlung. Der Wohnort allein ist entscheidend. So bleiben die Schulwege kurz. Heute verbringen Kinder und Jugendliche bis zu zwei Stunden am Tag im Schulbus. Die Klassenkameraden wohnen voneinander entfernt, gemeinsame Unternehmungen nachmittags scheitern an langen Wegen. Und dann schimpfen wir Erwachsenen, dass sich unsere Kinder mit Gruppenchats und Online-Spielen behelfen statt draußen gemeinsam zu spielen? Unser heutiges Schulsystem lässt ihnen oft gar keine andere Wahl.

Kurze Wege für kurze Beine.

Die Zergliederung in Oberschule und Gymnasium hat zu einer Ausdünnung unseres Schulnetzes geführt. Weil ab der fünften Klasse in Sachsen eine doppelte Struktur bestehen muss – Oberschule und Gymnasium – kann es sich der Staat nicht leisten, in jedem Ort beide Schularten zu haben. Denn dann hätten beide Schulen zu wenig Schüler. Also kommt die Oberschule in die eine Stadt und das Gymnasium in die andere. Und schon beginnt die Pendelei: Die Oberschüler aus dem Ort mit dem Gymnasium müssen in den Schulbus, die Gymnasiasten aus dem Ort mit der Oberschule genauso.

Wie unvernünftig ist dieser Umgang mit Ressourcen! Die zusätzlichen Wege kosten Zeit, Geld und Benzin, sie kosten aber auch Freundschaften und Wohlbefinden. Anders mit der Gemeinschaftsschule: Es gäbe eine in beiden Orten. Wer im Ort wohnt, geht im Ort zur Schule. Das hat übrigens nicht nur zu DDR-Zeiten bei uns gut funktioniert. Das funktioniert so auch im Rest der Welt. Einzig Deutschland, Österreich und die Schweiz halten an der frühen Trennung der Kinder fest.

Individuelle Förderung, kurze Wege und ein dichtes Schulnetz sind überzeugende Argumente für die Gemeinschaftsschule. Deshalb unterstütze ich den aktuellen Volksantrag. Er ist sehr vernünftig, denn er gibt unserem Schulsystem Zeit für einen langfristigen und behutsamen Wandel. Das längere gemeinsame Lernen soll nicht ab sofort und überall umgesetzt werden – so wie es zum Beispiel die Wirtschaftskammern fordern – sondern schrittweise, auf freiwilliger Basis und im Konsens. Genau auf diese behutsame Art hat sich Jena in den letzten zehn Jahren zu einer Stadt entwickelt, in der es heute nur noch Gemeinschaftsschulen gibt und alle Schüler an ihrer Schule den jeweils für sie passenden Abschluss erwerben.

Neue Wege beginnen immer mit dem ersten Schritt.

Neue Wege in der Bildung brauchen Zeit. Doch ganz gleich, wie lang sie sind: sie beginnen immer mit dem ersten Schritt. Deshalb ist es so wichtig, heute die Grundlagen dafür zu legen, dass der Freistaat Sachsen auch im Jahr 2030 für seine guten Bildungschancen anerkannt wird. Es gilt, die Zukunft in den Blick zu nehmen und unsere Schulen zu Orten der Lernfreude und Herzensbildung, der Vielfalt und des Zusammenhalts zu machen. Sachsen braucht die Gemeinschaftsschule.