VIELFALT. Sie ist einfach eine Tatsache.
So vielfältig, wie das Leben ist, so vielfältig sind die Menschen darin. Das gilt erst recht für Kinder. Wie schnell ein Kind laufen, wie gut es rechnen kann, wie geschickt es im Umgang mit Werkzeug ist oder wie talentiert in Kunst und Musik, hängt von vielen Faktoren ab. Dabei spielen Anregung und Übung eine Rolle, genauso aber auch Veranlagung und körperliche Voraussetzungen. Hinzu kommt: Kinder entwickeln sich unterschiedlich schnell und absolvieren Entwicklungsschritte in unterschiedlicher Reihenfolge. Das ist nicht nur im Kleinkindalter so, sondern setzt sich bis ins Erwachsensein fort.
Vielfalt ist einfach eine Tatsache, mit der es klug umzugehen gilt. Doch die „normale Schule“ sieht nach wie vor oft so aus, dass eine Lehrkraft eine dreiviertel Stunde lang vor 25 Kindern steht und allen den gleichen Vortrag hält. „Diese Methode scheint mir völlig verrückt zu sein“, sagt der US-amerikanische Intelligenzforscher Robert Plomin in einem Interview mit der Wochenzeitung DIE ZEIT. „Ein solcher Unterricht langweilt die klugen Schüler und bringt die schwachen Schüler in Schwierigkeiten. Was wir stattdessen brauchen, ist ein individueller Lehrplan, der sich den Voraussetzungen und Bedürfnissen des einzelnen Schülers anpasst. Nur so können wir optimale Leistungsergebnisse erzielen.“
Verschenkte Leistungsbereitschaft
In der „normalen“ Schule von heute ist für Unterschiedlichkeit wenig Platz. Mit einheitlichen Aufgaben und klar definierten Noten in fest umrissenen Unterrichtsfächern werden die Leistungen der Schülerinnen und Schüler vermessen. Manch ein Kind muss sich in einem Fach unglaublich anstrengen, um eine Drei zu erhalten, während ein anderes die Eins auch ohne Übung locker schafft. Im nächsten Fach kann es schon wieder ganz anders aussehen.
Regelmäßige Demotivation
Während Noten doch eigentlich den Leistungswillen von Kindern bewerten sollten, messen sie so viel von den angeborenen Voraussetzungen mit ein. Die Folge: In den Bereichen, in denen ein Kind besonders gut ist, verschenken wir wertvolle Leistungsbereitschaft und regen nicht an. Und in jenen, wo ein Kind Schwierigkeiten hat, führen schlechte Noten zu kontinuierlicher Demotivation.
Binnendifferenzierter Unterricht
Bildungswissenschaft und Pädagogik haben seit vielen Jahren gute Antworten auf die Frage, wie die Unterschiedlichkeit von Kindern und Jugendlichen berücksichtigt werden kann: Binnendifferenzierter Unterricht, individuelle Rückmeldungen statt oder notfalls ergänzend zu Schulnoten, Methodenvielfalt und Bewegungsförderung lauten unter anderem die Stichworte hierfür. Schulen, in denen auf diese Weise unterrichtet wird, erzielen gute Bildungserfolge und erhalten die Lernfreude. Und die meisten davon sind übrigens ➧ Gemeinschaftsschulen.
Auch auf die aktuellen Herausforderungen unseres Bildungssystems – Integration und Inklusion – ist der binnendifferenzierte Unterricht die richtige Antwort. Deshalb ist es wichtig, Bedingungen zu schaffen, unter denen Schulen die Empfehlungen der Bildungswissenschaft in die Praxis umsetzen können.
Jahrgangsübergreifendes Lernen
Neben der Tatsache, dass die Menschen verschieden sind, lässt sich noch etwas Weiteres feststellen: Menschen entwickeln sich unterschiedlich schnell und absolvieren Entwicklungsschritte in unterschiedlicher Reihenfolge. Bei Babys und Kleinkindern ist dieses Phänomen anerkannt und selbstverständlich. Während das eine Baby mit acht Monaten schon munter herumkrabbelt und erste Stehversuche unternimmt, scheinen andere noch mit vierzehn oder fünfzehn Monaten keine Lust aufs Laufen zu haben. Mancher Einjährige brabbelt den ganzen Tag, andere Kinder fangen erst mit drei Jahren das Sprechen an.
Im seltenen Einzelfall hat man es tatsächlich mit Entwicklungsstörungen und physischen Problemen zu tun, beispielsweise, wenn Kinder schwerhörig sind. Aber bis auf solche wenigen Ausnahmen sind Entwicklungsunterschiede völlig normal. Doch im höheren Alter hören wir oft auf, sie zu akzeptieren. Wenn unsere Kinder mit sechs Jahren in die Grundschule kommen, dann haben sie wissenschaftlichen Untersuchungen zufolge eine natürliche Entwicklungsspanne von vier bis acht Jahren. In unseren Schulen billigen wir ihnen nur wenige Wochen im “Anfangsunterricht” zu, um auf ein gemeinsames Level zu kommen. Das ➧ jahrgangsübergreifende Lernen kann hier eine gute Methode zum Ausgleich sein.