Stell Dir vor, Du lernst für’s Leben.

Das ist eine der spannendsten Fragen im Bereich der Bildungspolitik: Was soll die Schule eigentlich vermitteln? Natürlich Allgemeinbildung, fällt einem sicher sofort als Antwort ein. Aber was genau ist das denn, Allgemeinbildung?

Von der Allgemeinbildung zum Bildungskanon

Auf die Frage, was für ihn persönlich Allgemeinbildung bedeutet, antwortete der ehemalige Kultusminister Sachsen-Anhalts Prof. Jan-Hendrik Olbertz einmal: „All das, was man braucht, um sich grundsätzlich in der Welt zu orientieren, ohne auf Hilfsmittel angewiesen zu sein. Allgemeinbildung ist die Grundlage, um zu angemessenen Urteilen und Entscheidungen zu gelangen.“ Schaut man sich die Lehrbücher und Aufgabenhefte der heutigen Schülerinnen und Schüler an, dann übersteigt der dort vermittelte Stoff bei Weitem den Anspruch, „sich grundsätzlich ohne Hilfsmittel in der Welt zu orientieren“. Was also braucht es, um „zu angemessenen Urteilen und Entscheidungen zu gelangen“?

Die Antwort auf diese Frage ist naturgemäß ein Kind ihrer Zeit. Im antiken Griechenland waren es die sieben freien Künste (septem artes liberales), in welchen junge Männer unterwiesen wurden: die Wortwissenschaften Grammatik, Rhetorik, Dialektik sowie die Zahlenwissenschaften Arithmetik, Geometrie, Astronomie und Musik. Mit Aufklärung und Humanismus traten die Fachwissenschaften auf die Bühne – gleichzeitig blieben ästhetische und ethische Bildung das Fundament und Ziel aller pädagogischen Unterweisung. Mit dem 20. Jahrhundert gewann schließlich ein funktionales Bildungsverständnis mehr und mehr Raum. Allgemeinbildung wurde immer mehr zum Allgemeinwissen, ein Bildungskanon wurde definiert, der in jeder einzelnen Disziplin abzurufende Wissensbestände auflistete.

Bei der aktuellen Fokussierung von Unterricht auf das Abhörbare stellt sich aber immer wieder die Frage: Vermittelt unsere Schule tatsächlich die Bildung, die wir brauchen, um selbstbestimmt und zufrieden in sozialer Gemeinschaft zu leben?

Allgemeinbildung in der digitalisierten Wissensgesellschaft

Das ist die Bibliothek von Alexandria. Sie galt in der Antike als der Ort, an dem alles Wissen der Welt aufbewahrt und zu finden war. Alles Wissen der Welt mag vor 2.500 Jahren vielleicht noch in einen Palast gepasst haben. Heute ist das unmöglich. Das Wissen der Welt wächst exponentiell. Wissenschaftlichen Berechnungen zufolge verdoppelte es sich im Jahr 1980 noch alle fünfzehn Jahre, im Jahr 2000 alle sieben Jahre, im Jahr 2020 alle zwei Jahre. Gleichzeitig sinkt die Halbwertzeit bestehenden Wissens – insbesondere im technischen Bereich. Beides heißt: Die Vorstellung, dass es möglich wäre, während einer Schullaufbahn wesentliches Weltwissen zu erwerben, von dem man dann sein Leben lang zehren kann, ist eine ziemlich naive Illusion.

Die gute Nachricht ist: Heutzutage muss sich niemand mehr nach Alexandria begeben, um an den gesammelten Erkenntnissen über unsere Welt teilzuhaben. Dank Internet und Smartphone ist alles Wissen der Welt zu jeder Zeit und an jedem Ort verfügbar. Das stellt die Frage nach der Allgemeinbildung allerdings völlig neu: Was braucht der Mensch, um selbstbestimmt leben, vernünftig urteilen und selbständig handeln zu können – als vernunftbegabtes Individuum in einer sozialen Gemeinschaft?

Mut zur Lücke, Mut zur Vielfalt!

Keiner kann alles. Etwas kann jeder. Es ist ein großer Vorteil unserer arbeitsteiligen Gesellschaft, dass niemand alles können muss. Und dass die unterschiedlichen Fähigkeiten, Interessen und Neigungen von uns Menschen tatsächlich gebraucht werden. Wir entwickeln uns weiter, weil die Besten ihres Gebietes auf ihrem Gebiet tätig sein können. „The future of work is passion driven“, heißt es heute in den Personalabteilungen der großen Unternehmen. Wo Innovation und Kreativität zum wichtigsten Rohstoff werden, sind Hingabe und Leidenschaft die besten Werkzeuge. Und es wird zur Aufgabe der Schule, pädagogische Anregung und Förderung so zu geben, dass junge Menschen herausfinden, was ihre Stärken sind und wo ihre Leidenschaften liegen. Eine solche Schule braucht völlig andere Lehrpläne und Unterrichtsmethoden als jene, die unsere Kinder im letzten Jahrhundert zu Fließband-Arbeitern ausgebildet hat. Und sie stellt unsere (Sehn-)Sucht nach Einheitlichkeit, Vergleichbarkeit und Objektivität gehörig auf die Probe.

Entrümpelt die Lehrpläne!

Der finnische Lehrplan für das Fach Physik im Bereich der Sekundarstufe umfasst 5 Seiten, der sächsische Lehrplan kommt auf 49 Seiten. Damit ist schon ein guter Teil des Problems beschrieben: Obwohl die Kultusminister sich bereits 2004 bundesweit darauf verständigt haben, den in der Bildungswissenschaft seit langem geforderten Wechsel vom wissensorientierten zum kompetenzorientierten Unterricht zu gehen und auch entsprechende bundesweit einheitliche Bildungsstandards erstellt haben, sind die Lehrpläne der Bundesländer nach wie vor überfüllt. Die Deutsche Physikalische Gesellschaft zeigt in einer hervorragenden Studie, dass die zur Verfügung stehenden Unterrichtsstunden und die in den Lehrplänen geforderte Stofffülle beim besten Willen nicht zueinander passen und zeichnet ein ganz anderes Bild von modernem Physikunterricht: „Wir müssen uns also von der Utopie verabschieden, dass man so etwas wie einen Katalog von ‚unverzichtbaren Inhalten‘ für die Schulphysik erarbeiten könnte. Stattdessen schlagen wir eine relativ kleine Zahl von grundlegenden Konzepten vor, die es erlauben – von einfachsten, aber charakteristischen Beispielen ausgehend – schrittweise physikalisches Verständnis zu entwickeln.“

Üben wir uns im Miteinander!

Was brauchen wir im Leben? Was bestimmt unsere Zufriedenheit, unser Glück, unsere Lebensqualität? Es sind vor allem die Beziehungen zu anderen Menschen – ganz gleich, ob es um Familie und Freunde, um Arbeitskollegen und Vorgesetzte oder um Nachbarn, Mitmenschen und Fremde geht. Doch das Miteinander spielt in unserer Schule nur am Rande eine Rolle. Es ist ein Nebenprodukt der Bildung, doch nur selten Teil des Unterrichts. Das ist umso erstaunlicher, als doch unsere modernen demokratischen Gesellschaften ganz wesentlich auf das Miteinander der Menschen angewiesen sind. Gerade weil in unserer Welt Wissen überall und jederzeit verfügbar ist, birgt die Umgestaltung unserer Schulen eine große Chance: Sie können von dem Ort, an dem man für sich selbst lernt, zu einem Ort werden, an dem man miteinander und füreinander lernt. Die größten Herausforderungen unserer Gesellschaft liegen im sozialen Zusammenhalt, in der konstruktiven Lösung von Konflikten und in der gemeinsamen Bewältigung existenzieller Zukunftsfragen. Gleichberechtigung und Menschenrechte, Technikfolgen und Klimaschutz, Frieden und Glücksfähigkeit – das sind nach dem Erziehungswissenschaftler Wolfgang Klafki die epochalen Schlüsselprobleme unserer Zeit. Wo, wenn nicht in unseren Schulen, wollen wir Menschen dazu befähigen, sie zu miteinander zu bewältigen?