RAUM. Der dritte Pädagoge
„Der Raum ist der dritte Pädagoge“, sagte schon Mitte des letzten Jahrhunderts der italienische Erziehungswissenschaftler Loris Malaguzzi *. Der Blick auf die beiden Dresdner Schulhöfe unten – nur zweihundert Meter Luftlinie voneinander entfernt – gibt eine erste Ahnung, was damit gemeint ist. Schulräume und Schulhöfe haben einen großen Anteil daran, wie lebendig, wie interessant und wie schön die Lebenszeit sein kann, die man in der Schule verbringt.
Bei RAUM geht es um verschiedene Aspekte. Einer davon: Wo ist die Schule? Wie weit ist sie von zu Hause entfernt? Wie groß ist ihr Einzugsgebiet? Wie lang ist der Schulweg? Ein weiterer: Wie sind die Räume und Freiflächen in der Schule gestaltet? Wie stehen die Tische? Wie sitzen die Kinder? Und ein dritter: Wie viele Räume gibt es eigentlich? Welchen Zwecken stehen sie zur Verfügung? Wie kann und darf man sie nutzen?
Schule und Hort an einem Ort
In größeren Städten ist es inzwischen oft eine Selbstverständlichkeit, in kleineren Orten jedoch nicht: Dass Grundschule und Hort an einem Ort sind. Nur so aber gelingt die Gestaltung einer echten Ganztagsgrundschule – mit einem rhythmisierten Tagesablauf, in dem Unterricht, Freiarbeit und Spielzeit einander abwechseln (vgl. hierzu die „Sächsische Hortstudie“ von Thomas Markert und Claudia Weinhold). Es ist deshalb wichtig, dass Schule und Hort auch räumlich wieder zusammenwachsen. Und dass dort, wo beides schon unter einem Dach ist, der Hort über eigene Räume verfügt, statt nur in die Doppelnutzung von Klassenzimmern abgeschoben zu sein.
Kurze Wege für kurze Beine
Ja, es macht einen großen Unterschied, ob Kinder allein in die Schule laufen oder mit dem Fahrrad fahren können. Oder ob erst einmal eine weite Strecke per Bus oder Elterntaxi zurückgelegt werden muss. Das ist nicht nur eine Zeitfrage. Hier geht es auch um Selbständigkeit und Bewegung, um das Treffen mit Freunden und Naturerfahrung, um das Herzstück kleiner Orte und nicht zuletzt um ökologische Wegebeziehungen. Dabei müssen kleine Schülerzahlen kein Hindernis für die Grundschule im Dorf sein: Mit dem Konzept des jahrgangsübergreifenden Unterrichts gelingt auch hier ein effizienter Lehrereinsatz, wobei zugleich die pädagogische Qualität steigt. Und durch die Einführung von Gemeinschaftsschulen lässt sich für die Größeren ebenfalls ein dichtes Schulnetz knüpfen.
Bewegte Schule
Fünfundvierzig Minuten still sitzen. Wer ist schon dafür gemacht? Und welcher Orthopäde hält das eigentlich für eine gute Idee? Zweimal niemand. Bewegung ist ein Grundbedürfnis des Menschen. Die wissenschaftlichen Erkenntnisse sind eindeutig: Kinder lernen besser, wenn alle Sinne einbezogen sind. Bewegung verbessert die Durchblutung des Gehirns und hilft, Zivilisationskrankheiten vorzubeugen. Das Konzept der Bewegten Schule fängt bei ganz einfachen Sachen an – beispielsweise beim dynamischen Sitzen. Ein weiterer Punkt: Raus mit dem Unterricht, wann immer es geht! Wie viel sind fünf Kubikmeter? Und wie viel die Hälfte davon? Das lässt sich draußen im dreidimensionalen Raum viel besser erfahren als auf einem zweidimensionalen Stück Papier. Die Zahl der Ideen für bewegten Unterricht ist riesig, Apps wie „Math City Map“ ersparen den Lehrkräften die aufwändige Vorbereitung und die Erfahrungen zeigen eindeutig: Bewegung, Laufspiele und mobile Pausen steigern Konzentration, Disziplin und Wohlbefinden gleichermaßen.
Kindgerechte Räume
Eine Kuschelecke im Klassenraum? Sitzkissen und Sitzsäcke, Pflanzen und bunte Wände, persönliche Fächer und ein Liegeteppich? Für nicht wenige Erwachsene ist das eine schlimme Vorstellung, schnell ist von „Kuschelpädagogik“ die Rede. Doch warum gönnen wir Erwachsenen uns den Luxus schön eingerichteter Wohnungen und freundlicher Büros und glauben gleichzeitig, dass Kinder nur in kargen Räumen gut lernen? Wer sich wohl fühlt, lernt besser und ist kreativer, das ist inzwischen wissenschaftlich gut fundiert. Glücklicherweise gibt es immer mehr Schulen, in denen das Wohlfühlen eine größere Rolle als bisher spielt. Wo sich Kinder ein eigenes Sitzkissen für den Stuhl mitbringen dürfen, wo Freiarbeit auch in der Kuschelecke gemacht werden darf und wo keiner schimpft, wenn man rittlings auf dem Stuhl sitzt. Doch es gibt auch die anderen Beispiele: Wo das Trinken im Unterricht verboten ist und die Wände aus „hygienischen Gründen“ weiß bleiben sollen. Die Erwachsenen, die so denken, sollten einmal den Perspektivwechsel wagen: Will ich acht Stunden meiner täglichen Lebenszeit unter solchen Bedingungen verbringen?
Räume für Lehrkräfte
Wer über das Wohlfühlen in der Schule spricht, darf über Lehrerzimmer nicht schweigen. Die österreichische Tageszeitung Der Standard forderte 2013 Lehrerinnen und Lehrer auf, Fotos ihrer Lehrerzimmer zu schicken. Das Bild oben ist eines davon (anonym), das Zimmer muss insgesamt 80 Lehrkräfte fassen. Völlig klar: Wer in der Schule keinen Platz hat, um seine Unterrichtsmaterialien übersichtlich zu lagern, wer keinen eigenen Schreibtisch hat, um Unterrichtsvorbereitung zu machen, der flieht diesen Ort, so schnell es geht. Doch gute Schule lebt von der Anwesenheit der Lehrkräfte – auch außerhalb der Unterrichtsstunden. Nur so lässt sich eine sinnvolle Schüler-Lehrer-Beziehung aufbauen, nur so lässt sich der kollegiale Austausch ermöglichen und nur so können Lehrkräfte auch für die Eltern verlässliche Ansprechpartner sein. Jahrzehntelang begrenzte das sächsische „Musterraumprogramm“ den förderfähigen Platz in Schulgebäuden nicht nur für Schüler, sondern auch für Lehrkräfte. Seit 2005 ist es zwar abgeschafft, doch in den Köpfen vieler Schulplaner und Stadtkämmerer lebt es fort. Gute Schule aber gibt’s erst, wenn auch Lehrkräfte vernünftige Arbeitsbedingungen und eigene Arbeitsplätze haben.
Räume für das Miteinander
Bildung ist Beziehungsarbeit – das gilt für Schüler und Lehrkräfte gleichermaßen. Die Schule ist ein Ort des Austausches, der Kommunikation, der gemeinsamen Arbeit. Räume und ihre Ausgestaltung können viel dazu beitragen, diesen Austausch zu befördern. Sie tragen dazu bei, pädagogische Konzepte zu unterstützen oder zu behindern. Der binnendifferenzierte Unterricht kann nur dann richtig gelingen, wenn Differenzierungsräume zur Verfügung stehen – wenn es also möglich ist, neben dem Klassenzimmer noch einen weiteren Raum zu nutzen, in dem beispielsweise parallel zum Unterricht eine Gruppenarbeit stattfinden kann. Ein Schulhaus, in dem auch außerhalb der Zimmer Gruppenbereiche und Sitzecken eingerichtet sind, lädt ein zur Kommunikation. Ein Lehrerbereich, in dem neben den Schreibtischen auch eine Sofagruppe vorhanden ist, lädt ein zum lockeren Gespräch über fächerverbindende Projekte, zur Auswertung der letzten Klassenfahrt oder zum Austausch über die persönlichen Hintergründe für das vermeintlich undisziplinierte Verhalten einer Schülerin. Mit wenigen Mitteln können die Kommunen als Schulträger und damit Raumgestalter dazu beitragen, dass sich in unseren Schulen eine neue Schulkultur des Austauschs und Zusammenhalts entwickelt.
* Der dritte Pädagoge? Wer ist denn der zweite? Die Mitschülerinnen und Mitschüler! Von ihnen lernen Kinder nämlich mindestens genauso viel wie von ihren Lehrerinnen und Lehrern. Pädagogische Konzepte wie Gruppenarbeit und jahrgangsübergreifendes Lernen machen sich diese Tatsache zunutze.