Offener Brief an den Sächsischen Lehrerverband zum Thema Gemeinschaftsschule

Mit einem offenen Brief reagiert die bildungspolitische Sprecherin der SPD-Landtagsfraktion Sabine Friedel auf den Vorsitzenden des Sächsischen Lehrerverbands Jens Weichelt.

„Wenn in Sachsen 50.000 Bürgerinnen und Bürger einen Volksantrag zur Einführung der Gemeinschaftsschule einreichen, dann ist die Politik in der Verantwortung, sich mit diesem Wunsch ernsthaft und intensiv auseinanderzusetzen“, erklärt Friedel.

Weichelt hatte zuvor unter Bezugnahme auf ein zufällig gerade während der Koalitionsverhandlungen im Blog des Kultusministeriums veröffentlichtes Interview mit der IQB-Direktorin Frau Prof. Petra Stanat gefordert, das sächsische Schulsystem dürfe keine Experimentierwiese für Parteiinteressen werden.

„Die von Ihnen wiederholt aufgeführten Kampfbegriffe tragen nichts dazu bei, einen sächsischen Schulfrieden zu schaffen“, entgegnet Friedel. Sie regt stattdessen an, die gemeinsamen Energien auf die Erhöhung der Unterrichtsqualität zu fokussieren. Dies sei die wesentliche Botschaft von Frau Prof. Stanat.

In ihrem Interview diagnostizierte die IQB-Direktorin unter anderem, dass sich die „sächsischen Schülerinnen und Schüler von ihren Mathematiklehrkräften aber deutlich weniger unterstützt [fühlen] als Schülerinnen und Schüler bundesweit – die Werte für Fehlerkultur (respektvoller, geduldiger Umgang mit Fehlern) und Schülerorientierung (individuelle Unterstützung und Begleitung beim Lernen) fallen unterdurchschnittlich aus. Dies sollte man sich genauer anschauen und diskutieren.“

 

Sehr geehrter Herr Weichelt,

Ihre heutige Pressemitteilung im Namen des Sächsischen Lehrerverbands reizt mich so sehr zum Widerspruch, dass ich Ihnen darauf öffentlich antworten möchte.

Sie zitieren die im Blog-Beitrag des SMK interviewte Direktorin des IQB Frau Prof. Petra Stanat. Aber leider sehr einseitig. Frau Prof. Stanat hat nicht nur gesagt, dass schulstrukturelle Veränderungen immer mit erheblichem Aufwand verbunden seien. Sie führte auch aus:

„In der Gesamtschau weisen die Ergebnisse nationaler und internationaler Studien der Bildungsforschung darauf hin, dass nicht die Schulstruktur, sondern die Qualität des Unterrichts für den Lernerfolg von Schülerinnen und Schülern entscheidend ist.“ Und weiter heißt es: „Ob die Leistungsfähigkeit des sächsischen Schulsystems durch die Einführung einer neuen Schulart gefährdet wird, ist schwer zu sagen. … Will man weiterhin gute Lernergebnisse erzielen, wird es vor allem darauf ankommen, die Qualität des Unterrichts zu sichern – darauf sollte das Hauptaugenmerk liegen.“

Ich glaube, dass Frau Prof. Stanat da einen entscheidenden Punkt trifft, der sich ja auch mit den Ergebnissen der Hattie-Studie deckt: Auf die Lehrkraft kommt es an, auf den guten Unterricht. Und eben nicht auf die Schulstruktur. Umso unverständlicher ist es mir, dass sich die bildungspolitischen Beiträge des SLV seit langem auf die aus meiner Sicht doch recht ideologische Debatte um Schulstrukturen fixieren (sofern sie sich nicht Fragen des Verdienstes von Lehrkräften widmen).

Wenn in Sachsen 50.000 Bürgerinnen und Bürger einen Volksantrag zur Einführung der Gemeinschaftsschule einreichen, dann ist die Politik in der Verantwortung, sich mit diesem Wunsch ernsthaft und intensiv auseinanderzusetzen. Wenn 50.000 Bürgerinnen und Bürger einen Volksantrag für die Beibehaltung von Kopfnoten einreichten, müssten wir das genauso tun.

Die von Ihnen in der Pressemitteilung wiederholt aufgeführten Kampfbegriffe tragen nichts dazu bei, einen sächsischen Schulfrieden zu schaffen und die gemeinsamen Energien auf die Erhöhung der Qualität des Unterrichts zu fokussieren:

Sie schreiben von „Experimenten“: Abgesehen davon, dass das Experiment nicht nur an Schulen ein wesentlicher Motor des Lernens ist, handelt es sich bei der Gemeinschaftsschule nicht um ein Experiment, sondern um eine reguläre Schulform, die in vielen anderen Bundesländern existiert, die internationaler Standard ist und die beim Deutschen Schulpreis regelmäßig ausgezeichnet wird.

Sie schreiben von „Parteiinteressen“: Abgesehen davon, dass das freie Vertreten von Interessen ein konstitutiver Bestandteil unserer pluralistischen Demokratie ist, der nicht nur Lehrerverbänden, sondern auch Parteien zuzugestehen ist, handelt es sich beim Volksantrag nicht um einen Antrag von Parteien, sondern um einen von 50.000 Bürgerinnen und Bürgern – darunter so manchem SLV-Mitglied – unterzeichneten Gesetzentwurf.

Und schließlich schreiben Sie davon, dass die Gemeinschaftsschule nichts bietet, was nicht auch eine Oberschule leisten könnte. Hier irren Sie leider. Die Oberschule beginnt erst ab der fünften Klasse. Das heißt, sie kann ihren Schülerinnen und Schülern eben keine Weiterführung der vertrauten Lernumgebung nach Klasse vier bieten. Die Oberschule stellt eine äußere Differenzierung dar. Sie kann den Schülerinnen und Schülern eben kein gemeinsames Lernen mit leistungsstarken Mitschülern bieten, die das Abitur anstreben. Wenn der SLV seine fortwährende Rede von der Stärkung der Oberschule ernst meinte, dann müsste er sich in besonderem Maße dafür einsetzen, dass sich die sächsischen Oberschulen zu Gemeinschaftsschulen weiterentwickeln können.

Sehr geehrter Herr Weichelt, an der Einführung der Gemeinschaftsschule hängt nicht das Wohl und Wehe des sächsischen Bildungssystems. Weder wird es mit der Gemeinschaftsschule zu neuen Höhenflügen aufbrechen noch wird es ohne sie untergehen. Aus meiner Sicht tun sowohl die Bildungspolitik als auch die Interessenvertretungen der Lehrkräfte gut daran, das Thema pragmatisch zu behandeln. Dort, wo alle vor Ort eine Gemeinschaftsschule wollen, dort soll sie existieren dürfen. Und da, wo es nicht gewollt wird, soll auch keine sein. So lautet der Volksantrag. Und für diesen salomonischen Weg haben 50.000 Sächsinnen und Sachsen unterschrieben. Diesem Bürgerwillen fühle ich mich verpflichtet – aus bildungspolitischen, aber vor allem auch aus demokratischen Gründen.

Freundliche Grüße,
Sabine Friedel MdL
Bildungspolitische Sprecherin
SPD-Fraktion im Sächsischen Landtag